NEUROPSYCHIATER

View Original

‘Predictive Coding’ und Psychopathologie

Bereits in meinen Beiträgen ‘Das bayesianische Gehirn’, ‘György Buzsaki: The Brain from Inside Out’ und ‘Lisa Feldman Barrett: Seven and a Half Lessons About the Brain’ bin ich auf die Theorie des Predictive Coding eingegangen. Dank der Lektüre von Philipp Sterzes Buch ‘Die Illusion der Vernunft’ habe ich einige Aspekte nun besser verstanden und versuche, diese mit Hilfe von 5 Graphiken zu verdeutlichen.

Der Kern der Theorie ist der, dass das Gehirn eine “Vorhersagemaschine” ist, die durch ständigen Abgleich der eigenen Vorhersagen mit den sensorischen Rückmeldungen die innere Repräsentation der Welt (das Weltbild) anpasst.

Aufgrund unseres Weltbildes planen wir unsere Handlungen (Wirkung in der Welt) und sagen die Situation in der Welt und die sich daraus ergebende Wahrnehmung (Perzeption) voraus (blaue Pfeile). Umgekehrt erhält dann jede Ebene eine Rückmeldung darüber, ob die Voraussage richtig war (rote Pfeile):

Normales und krankhaftes Erleben kann mit diesem Modell gut erklärt werden. Einige Beispiele:

Überraschung

Gehe ich z.B. davon aus, dass heute ein normaler und friedlicher Tag ist (Weltbild), plane ich, auf dem Markt einkaufen zu gehen, erwarte viele Menschen und damit alle damit einhergehenden Wahrnehmungen. Ertönt plötzlich ein lauter Knall, so wird eine Rückmeldung über eine für die Situation unerwartete Perzeption gegeben (1 und 2):

Durch Anpassung der Erwartung (ein Schuss?) wird die Voraussage angepasst (3 und 4) bis Voraussage und Perzeption wieder übereinstimmen. In diesem Fall bis klar ist, dass nur Bauarbeiter ein Stahlrohr haben fallenlassen.

Illusionäre Verkennung

Wir sind müde und müssen nachts bei Regen mit dem Auto fahren (1, 2 und 3). Wir befürchten, z.B. einen Passanten anzufahren, sollten wir diesen zu spät am Strassenrand erkennen und halten angestrengt nach menschlichen Umrissen Ausschau (4).

Obwohl wir nur einen Busch am Strassenrand sehen, verkennen wir ihn als Passanten (Illusion). Die Rückmeldung über die Tatsache, dass es sich um einen Busch handelt ist zu schwach, um gegen die übermächtige Voraussage anzukommen - zumindest bis wir unmittelbar beim Busch sind und nun die Interpretation als Passant nicht mehr möglich ist.

Entstehung einer wahnhaften Interpretation der Welt

Wir erkenne in einer speziellen Gesteinsformation im Gebirge ein Gesicht (1). Diese Rückmeldung wird überbewertet und durch zu wenig gewichtete Voraussage nicht korrigiert. Die Situation wird als bedrohlich interpretiert: ‘Da stimmt was nicht’ (2) und z.B. Deckung, Schutz gesucht (3):

Da diese Interpretation nicht durch plausiblere Voraussagen für die unteren Ebenen korrigiert wird, muss das Weltbild angepasst werden (4): eine höhere Macht verfolgt mich und gibt mir Zeichen durch die Gesteinsformation.

Gefühl des Gemachten

Bei Psychosen gibt es das Erleben des Gemachten. Die Betroffenen meinen z.B., dass sie nicht selbst den Arm gehoben haben, sondern dass dies von aussen gemacht, gesteuert sei. Hier wird bei der Aktion ‘Arm heben’ (1) keine genügend gute Voraussage an die unteren Ebenen (2, 3) gemeldet. Entsprechend kommt eine ‘Fehlermeldung’ zurück:

Der Vorhersagefehler kann dann durch die Interpretation ‘Mein Arm wurde von aussen bewegt’ wieder korrigiert werden. Diese Interpretation ist aber wieder ‘wahnhaft’, analog zum oberen Beispiel, dieses Mal aber nicht von der Perzeption ausgehend, sondern von der eigenen, bzgl. der Konsequenzen nicht gut vorhergesagten Handlung.

Literatur

Sterzer P. Die Illusion der Vernunft: Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Berlin: Ullstein Hardcover; 2022. 320 S.

Buzsáki G. The Brain from Inside Out. Illustrated Edition. New York, NY: OXFORD UNIV PR; 2019. 464 S.

Barrett LF. Seven and a Half Lessons about the Brain. Boston: HOUGHTON MIFFLIN; 2020. 192 S.

Friston K. The free-energy principle: a unified brain theory? Nat Rev Neurosci. Februar 2010;11(2):127–38.

Horga G er al. Deficits in predictive coding underlie hallucinations in schizophrenia. J Neurosci Off J Soc Neurosci. 11. Juni 2014;34(24):8072–82.