"Die Illusion der Vernunft - Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten" von Philipp Sterzer
Philipp Sterzer
"Die Illusion der Vernunft - Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten"
Wie in meinem letzten Beitrag erwähnt, hat mir im Buch von Philipp Sterzer die Erläuterung der Theorie des Predictive Codings besonders gut gefallen. Ausgehend von seinem Staunen über “falsche” Überzeugungen entwickelt er ein Verständnis für “normale” (nicht krankhafte) Überzeugungen, Verschwörungstheorien und auch den krankhaften Wahn z.B. im Rahmen einer Schizophrenie.
Was ich mir herausgeschrieben habe:
Schon einfache Kippfiguren wie die ‘Rubin-Vasen’ (man sieht im Wechsel eine Vase oder zwei Gesichter im Profil), ‘Meine Frau und meine Schwiegermutter’ (man sieht im Wechsel eine junge oder eine alte Frau) und der ‘Necker-Würfel’ (die als Vorderseite wahrgenommene Seite wechselt beim Betrachten) sind als bistabile Wahrnehmungen schöne Beispiele dafür, wie unsere Überzeugung, was wir wahrnehmen, schnell wechseln kann.
Deskriptive Überzeugungen (die Überzeugung, dass eine Aussage der Realität entspricht) sind zahlreichen, sogenannten kognitiven Verzerrungen ausgesetzt: z.B. die Clustering-Illsuion (wir meinen z.B. eine Gestalt in einer Felsformation zu erkennen), das Kausalitätsbedürfnis (Ereignissen werden Ursachen zugeordnet, auch wenn es vielleicht keine gibt) das Intentionaliätsbedürfnis oder ‘Hypersensitive Agency Detention Device’ (das Erkennen von Absichten, wo keine sind) und der Confirmation Bias (wir nehmen v.a. die Informationen auf, die unser Weltbild bestätigen). Werden zudem Evidenzen (Tatsachen, Erfahrungen) asymmetrisch zu Gunsten der eigenen Vorstellung gewichtet, so is man schon nahe bei Verschwörungstheorien.
Es ist also häufig nicht einfach zu entscheiden, welche Überzeugung ‘verrückt’ ist und welche nicht. Noch schwieriger wird es bei normativen Überzeugungen wie z.B. ‘alle Menschen sollten ihr Meinung frei äussern dürfen’.
‘Wir sind blind für unseren blinden Fleck’. Auf jedem Auge haben wir einen blinden Fleck, d.h. ein kleines Areal, in dem wir nichts sehen. Wir nehmen diesen blinden Fleck aber nicht wahr, weil das Gehirn die fehlende Information ‘auffüllt’, ohne dass wir das bemerken. Wir sind eben blind für den blinden Fleck.
Überzeugungen - selbst wenn sie nicht der ‘Realität’ entsprechen - haben auch wichtige Funktionen. So helfen sie uns, in potentiell gefährlichen Situationen schnell zu reagieren. Zudem haben sie eine soziale Funktion. Narrative, die sinnstiftend sind, fördern das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Die Fähigkeit des Menschen, Probleme zu lösen, beruht darauf, Vorhersagen treffen zu können. Im Rahmen der Theorie des ‘Predcitive Codings’ wird das Gehirn jedoch grundsätzlich als ‘Vorhersagemaschine’ gedacht (cf. mein Beitrag ‘Predictive Coding’ und Psychopathologie). Überzeugungen entsprechenden dem inneren Modell der Welt als best guesses.
“Regelmässigkeit ist die Mutter aller Vorhersagen”. Ereignisse, die regelmässig auftreten, werden stabil vorhergesagt und dann Abweichungen von der Regelmässigkeit erkannt. Dies kann in einfachen Experimenten gezeigt werden. Ertönen z.B. in regelmässigem Abstand Töne mit der Frequenz von 440 Hz und nur selten ein Ton mit der Frequent von 523 Hz, so löst im Sinne des Predicitve Coding der zweite Ton ein Vorhersagefehlersignal aus. Dieses kann im EEG (Hirnstromkurve) gemessen werden als sogenannte ‘Mismatch Negativity’.
Diverse Studien konnten zeigen, dass die Mismatch Negativity bei Menschen mit Schizophrenie vermindert ist. Sie können weniger gut zwischen vorhersagbaren und nicht vorhersagbaren Reizen unterscheiden. Dies passt zur Hypothese, dass bei den Betroffenen die Vorhersagen schwächer gewichtet werden als die Sinnesdaten, was zu Wahrnehmungsstörungen führt.
Schön auch, wie sich klassische Modelle der Psychopathologie mit der Theorie des Predictive Codings in Übereinstimmung bringen lassen. So entspricht die von Klaus Conrad als Trema bezeichnete erste Phase Phase psychotischen Erlebens mit Unruhe, Angst und Anspannung zu Beginn der veränderten Wahrnehmung durch schwächere Gewichtung der Vorhersagen. “Diese allgemeine Wahnstimmung ohne bestimmte Inhalte muss”, so Karl Jaspers, “ganz unerträglich sein. Die Kranken leiden entsetzlich, und schon der Gewinn einer bestimmten Vorstellung ist wie eine Erleichterung.” Eine entlastende Wirkung hat dann ein “unmittelbar sich aufzwingendes Wissen von Bedeutung”. Dieses Aha-Erlebnis wird von Klaus Conrad als Apophänie (Offenbarenden) bezeichnet. Im Modell des Predictive Codings entspricht dies einer angepassten Voraussage über die Welt, also einer Anpassung des Weltbildes.
Sterzer P. Die Illusion der Vernunft: Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Berlin: Ullstein Hardcover; 2022. 320 S.