Der psychophysiologische Belastungstest
Grundlagen
Je nach Anforderung, die die Bewältigung einer Situation an uns stellt, sind wir aktivierter, “gestresster” oder entspannter, sowohl kognitiv als auch emotional und körperlich. So schlägt das Herz je nach Anforderungen langsamer oder schneller. Es ist aber nicht nur wichtig, dass wir uns an eine grosse Breite von Anforderungen anpassen können, sondern auch, dass wir rasch wechseln können: z.B. rasches Ansteigen der Herzfrequenz, wenn wir plötzlich wegrennen müssen, dann aber auch wieder rasche Erholung, wenn wir wieder in Sicherheit sind.
Gelingt uns dies z.B. im Rahmen einer langandauernden Belastung über einen längeren Zeitraum nicht, so kann es zu vielen körperlichen Symptomen kommen. Solche psychosomatischen Symptome sind typisch für Stressfolgekrankheiten und häufig Ausdruck der Unfähigkeit, wieder “einen Gang zurückschalten” zu können.
Gesteuert wird die Anpassung der Aktivierung an die aktuellen Bedürfnisse durch das vegetative Nervensystem. Dieses funktioniert autonom (es wird deshalb auch autonomes Nervensystem genannt), d.h. weitgehend ohne unsere bewusste Wahrnehmung bzw. ohne Möglichkeit der bewussten Steuerung. Einzig die Atmung können wir willentlich (mit-)steuern. Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Anteilen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus ist aktiviert bei Leistungssteigerung, das Herz schlägt schneller, die Atmung wird beschleunigt und die Muskeln sind aktivierter (‘fight or flight’). Der Parasympathikus hingegen beruhigt diese Aktivität, begünstigt Beruhigung und Erholung (‘rest and digest’). Bei einer gesunden Regulation wechseln sich die Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus ab je nach Anforderungen.
Durch einen psychophysiologischen Belastungstest können vegetative Fehlregulationen gemessen und somit bewusst gemacht werden (Aha-Erlebnis). Dies ergänzt die Diagnostik, weil es erlaubt, Stresssymptome und psychosomatische Beschwerden direkt nachzuweisen und nicht nur als Ausschlussdiagnose zu verstehen. Zudem kann mit Hilfe des Belastungsprofils das therapeutische Vorgehen mit Biofeedback gezielt geplant werden.
Vorgehen
Im psychophysiologischen Belastungstest werden Änderungen des Hautleitwertes, der Handtemperatur, der Muskelspannung, der Atemfrequenz, der Herzfrequenz, der Herzratenvariabilität und der Kohärenz von Atemfrequenz und Herzfrequenz gemessen. Dazu werden ein Thermometer an Fingern, Elektroden an der Hand und der Nackenmuskulatur zur Messung des Hautleitwertes und der Muskelaktivität, ein Bauchgurt zur Messung der Atemfrequenz und ein Pulsmessgerät angebracht.
Zuerst wird die Baseline gemessen. Dann folgen verschiedene Belastungen mit jeweils einer Erholungszeit dazwischen. Für jede Grösse wird dann der Messwert gegen die Zeit aufgetragen und dargestellt, ob zum jeweiligen Zeitpunkt eine Belastungs- oder Entspannungsphase bestand. Idealerweise zeigt sich dann deutliche Stressreaktion, auf welche aber eine schnelle und vollständige Erholung folgt.
Graphische Darstellung des Belastungsprofils
Die einzelnen Zeilen stellen folgende Messwerte dar:
1. Die elektrodermale Aktivität EDA (Synonyme: Galvanic skin response GSR, Skin Conductance Response SCR oder Electrodermal response EDR) ist ein Mass für die elektrischen Leitfähigkeit der Haut. Eine Erhöhung des Sympathikotonus bei emotional-affektiven Reaktionen bewirkt eine erhöhte Schweißsekretion, welche entsprechend zu einer Zunahme der Hautleitfähigkeit führt.
2. Die Hauttemperatur steigt bei Vasodilatation (Gefässerweiterung) als Ausdruck einer Entspannung bei erhöhtem Parasympathikotonus.
3. Der Blutvolumenpuls (BVP) wird mittels eines Photoplethysmographen (PPG) gemessen. Dabei werden Infrarotlichtstrahlen durch das Gewebe gesendet und aufgrund der Lichtresorption das Volumen des zirkulierenden Blutes gemessen. Da mit jedem Pulsschlag der Blutfluss zunimmt, können aus der gemessenen Kurve zahlreiche Grössen berechnet werden, u.a. die Herzfrequenz (‘Puls’).
4. Die Atemfrequenz steigt typischerweise bei erhöhtem Sympathikotonus an und wird bei erhöhtem Parasympathikotonus langsamer.
5. Das Elektromyogramm (EMG) misst die Muskelspannung, welche Ausdruck eines erhöhten Sympathikotonus oder auch einer oberflächlichen Atmung mit der Atemhilfsmuskulatur sein kann.
6. Die BVP-Amplitude ist ein Mass für den relativen Blutfluss. Bei einer parasympathischen Reaktion dehnen sich die Gefässe aus (Vasodilatation) und es fliesst mehr Blut. Umgekehrt ziehen sich bei einer sympathischen Reaktion die Gefässe zusammen (Vasokonstriktion) und es fliesst weniger Blut.
7. Die Herzfrequenz wird durch verschiedene Regelkreise gesteuert und ist wesentlich von der Atmung beeinflusst. Beim Einatmen und bei sympathischer Reaktion steigt sie, beim Ausatmen und bei parasympathischer Reaktion sinkt sie wieder.
8. Die Herzratenvariabilität ist ein Mass für die Fähigkeit die sympathische und parasympathische Reaktion flexibel den Anforderungen anzupassen.
9. Die Kohärenz ist ein Mass für die Kopplung der Herzratenvariabilität an die Atmung und ist bei körperlicher Entspannung und emotionaler Ausgeglichenheit am höchsten.
Interpretation
Das Belastungsprofil erlaubt Aussagen darüber zu machen, wie der Körper auf kurze psychische Belastungen reagiert. Für die Interpretation ist es dabei nicht nur wichtig, bei welchem Organsystem die Werte abweichen, sondern auch, ob sich ein spezifisches Muster zeigt. So können auffällige Baselinewerte, eine verstärkte Reaktion unter Belastung oder eine verminderte Regenerationsfähigkeit gefunden werden.
Normales Belastungsprofil:
Bei einem normalen Belastungsprofil sind alle Werte sowohl in Baseline in der Norm, steigen bzw. fallen unter Belastung und es erfolgt eine rasche und vollständige Erholung. Dies widerspiegelt i.R. der Belastungsdiagnostik eine intakte Autoregulation der vegetativen Funktionen und wird v.a. bei Patientinnen und Patienten selten gefunden.
Belastungsprofil mit zu hoher Baseline:
In diesem Beispiel überschreiten die Werte des EMGs und der Herzfrequenz bereits in der Pre-Baseline den Cutoff. Dies deutet darauf hin, dass der sympathische Teil des peripheren Nervensystems bereits bei Ruhe überaktiviert ist. Betroffene können über eine zu grosse Anspannung und Nervosität klagen.
Ziel einer Biofeedbackbehandlung ist es in diesem Fall, die physiologischen Parameter in Ruhe und Entspannung zu normalisieren.
Belastungsprofil mit zu starkem Anstieg bei Belastung:
Während des Stressors liegt eine verstärkte physiologische Reaktion vor, in diesem Beispiel beim Hautleitwert und der Herzfrequenz. Die Betroffenen reagieren schnell mit Angst und Nervosität auf Belastungen, können sich aber rasch erholen, wenn die Belastung nachlässt.
Hier geht es bei der Therapie darum, Stressoren zu identifizieren und zu lernen, die physiologische Reaktion unter diesem Stress zu reduzieren.
Belastungsprofil mit ungenügender Erholung und zunehmendem Arousal:
Der zu hohe bzw. zu tiefe Wert beim Hautleitwert und der Hauttemperatur zeigt an, dass in den Entspannungsphasen der Parasympathikus nicht genügend aktiviert werden kann. Dies resultiert zugleich in einer stetigen Verstärkung des Erregungsniveaus, sodass die Post-Baseline sogar erhöht bzw. erniedrigt ist.
Die Betroffenen erfahren eine zunehmende Anspannung im Verlauf des Tages. Sie klagen über Nervosität, Gereiztheit, Konzentrations- und Schlafprobleme und haben ein erhöhtes Risiko für stressbezogene Folgeerkrankungen. Dieses Muster ist assoziiert mit chronischem Stress, generalisierter Angst und auch posttraumatischer Belastungsstörung.
Ziel der Behandlung ist es zu lernen, die Parameter nach einer Belastung wieder schnell auf ein normales Niveau zu senken. Neben dem Biofeedback-Training sollten auch im Alltag wiederholt kurze Momente mit Achtsamkeit und Entspannungsübungen eingebaut werden.
Belastungsprofil mit stärkerem Anstieg bei Entspannung als bei Belastung:
In diesem Beispiel steigen EMG und Herzfrequenz sogar in der Entspannungsphase an. Betroffene denken typischerweise auch nach der Belastung weiterhin daran, gehen es in Gedanken immer wieder durch. Neben dem Biofeedback-Training sollten Achtsamkeitsübungen erarbeitet werden, um negative Gedanken loslassen zu können.
Literatur
Khazan, I: The clinical handbook of biofeedback. A step-by-step guide for Training and Practice with mindfulness. Wiley-Blackwell 2013.
Haus, KM: Praxisbuch Biofeedback und Neurofeedback. 2. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg 2016.