Neuromarker für die neuronale Selbstorganisation
Wie ich in “Therapieplanung mit Hilfe des Yerkes-Dodson-Gesetzes” beschrieben habe, benötigt man Kenntniss über den Aktivierungszustand verschiedener funktioneller Systeme, um bei Fehlregulationen therapeutisch gezielt eingreifen zu können. Diese Kenntnis erlangt man z.B. mit Hilfe von Neuromarkern der neuronalen Selbstorganisation oder auch des neuronalen Antwortverhaltens. In diesem Beitrag beschreibe ich die Funktionsweise des quantitativen EEGs (qEEG) zur Charakterisierung der neuronalen Selbstorganisation.
Das Gehirn ist immer aktiv. Ob wir konzentriert nachdenken, Dinge erledigen, tagträumen oder schlafen, immer sind neuronale Netzwerke aktiv. Im EEG erkennt man das daran, dass sich immer rhythmische Aktivitäten messen lassen. Bildlich gesprochen schwingen die verschiedenen Systeme kontinuierlich. Je nach Anforderungen und mentalem Zustand passen sich diese Schwingungen an, um die Stabilität der Prozesse zu gewährleisten. Man spricht von neuronaler Selbstorganisation.
Um die aktuelle Fähigkeit zur Selbstorganisation zu messen, bietet sich das Ableiten des EEGs während eines Aufmerksamkeittstests an. Denn neben der kortikalen (Hirnrinde) und limbischen (tiefere, v.a. für die Emotionsregulation wichtige Strukturen) Aktivierung haben zahlreiche funktionelle Systeme einen Einfluss auf die Aufmerksamkeit: Signaldetektion, sensorische Verarbeitung, Arbeitsgedächtnis und die eigentlichen attentionalen Netzwerke (‘Alerting’, ‘Orienting’ und ‘Executive’).
In den Praxen für Neuropsychiatrie und Neurostimulation verwenden wir einen von Juri Kropotov und Andreas Müller entwickelten Algorithmus (HBimed). Bei diesem wird so vorgegangen, dass das während einer 20 Minuten dauernden GO/NoGO-Aufgabe (VCPT: Visual Continuous Performance Task) das EEG abgeleitet wird. Dabei werden immer kurz nacheinander Paare von Bildern gezeigt: Erscheint zuerst ein Tier, so soll beim Erscheinen eines Tiers beim zweiten Bild eine Taste gedrückt werden (GO). Erscheint aber eine Pflanze, so soll nicht gedrückt werden (NoGO).
Neben der Möglichkeit, das EEG quantitativ auszuwerten, werden natürlich auch die Verhaltensdaten analysiert (Reaktionszeiten, Fehlerquoten) und das EEG bzgl. Grundaktivität, Herdbefunden oder auch epilepsietypischen Potentialen beurteilt. Für das quantitative EEG wird zunächst mit Hilfe der Fourier-Transformation das Spektrum des EEG-Zeitsignals berechnet:
Wird das Spektrum für jede Elektrode des EEGs berechnet, erhält man folgendes Bild:
Die sichtbaren Peaks zeigen in diesem Beispiel an, dass sich fast über dem ganzen Kortex eine deutliche Aktivität um 10 Hz, also Alpha-Aktivität findet. Nach Vergleich mit der Normdatenbank wird dargestellt, welche Frequenzbereiche vermehrt vorkommen verglichen mit altersangepassten Vergleichspersonen. Es zeigt sich in diesem Beispiel, dass die schon von Auge starke Alpha-Aktivität auch statistisch signifikant verstärkt ist (im Bild anhand der kleinen Bälkchen unterhalb des Peaks ersichtlich):
Eine signifikant verstärkte Alpha-Aktivität findet sich z.B. bei ADS. Eine limbische Überaktivierung z.B. im Rahmen einer Angsterkrankung kann hingegen zu einer verstärkten Beta-Aktivität über der Mitte des Gehirns führen:
Vergleicht man das Spektrum des EEG’s mit einer Normdatenbank, lassen sich also quantifizierte Aussagen über Abweichungen der kortikalen und limbischen Aktivierung machen. Manche Muster sind typisch für das Vorliegen neuronaler Fehlregulationen einzelner funktioneller Systeme und können damit als Neuromarker für psychische Störungen herangezogen werden. Dies einige Beispiele:
Verstärkte Alpha-Aktivität frontal —> Depression, Hypoaroused ADS
Verstärkte Beta-Aktivität zentral —> Hyperarousal, limbische Überaktivierung bei Angsterkrankung
Erhöhte Theta-Beta-Ratio —> ADHS
Das quantitative EEG kann somit als Methode zur Messung der Selbstorganisation neuronaler Netze angesehen werden. Man misst den «Schwingungsgesamtzustand» des Kortex aber auch limbischer Strukturen während der Bearbeitung von Aufgaben.
Literatur
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