Das bayesianische Gehirn
Verbreitet ist die Denkweise, dass das Gehirn ein Apparat ist, der es uns ermöglicht, auf Reize zu reagieren, unser Verhalten den Gegebenheiten anzupassen. Zuerst die Afferenz, dann die Efferenz - so lernte ich auch in der Neurologie zu denken. Was, wenn es umgekehrt wäre? Zuerst die Efferenz und dann die Afferenz? Davon handelt das Buch ‘The Brain from inside out’ von György Buzsaki. Er beschreibt dabei das Gehirn als ein Organ mit dem primären Ziel, Aktionen zu generieren und dann mit Hilfe der Sensorik die Konsequenzen zu evaluieren. Die Bedeutung von Dingen und Ereignissen würden sich dem Gehirn nur durch seine eigenen Aktionen erschliessen. Das Gehirn repräsentiere nicht die ganze Welt mit all ihren Details sondern nur diejenigen Aspekte, die relevant sind bzgl. der Planung eigener Aktivität. Oder anders: das Gehirn als Vorhersageorgan. Eine Aktion wird geplant und dann das Resultat mit dem Ziel verglichen. Bestehen Abweichungen, so wird der Plan geändert oder auch die Annahme über die Welt angepasst. Das Gehirn kann so als Planungs- und Vorhersageorgan verstanden werden, welches über das sensorische Feedback die interne Repräsentation der Welt und damit seine Vorhersagen laufend verbessert bzw. die Vorhersagefehler verkleinert.
Aufgrund dieser ständigen Aktualisierung der internen Repräsentation der Welt durch neue Erfahrungen wird auch vom bayesianischen Gehirn gesprochen. Damit soll auf das Gesetz von Bayes verwiesen werden. Thomas Bayes lebt im 18. Jahrhundert und war ein Reverend in Südengland. Er befasste sich mit der Wahrscheinlichkeitstheorie und stellte ein Theorem der bedingten Wahrscheinlichkeit auf. Es erlaubt, in die Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses Vorwissen über die Umstände dieses Ereignisses einfliessen zu lassen.
Ist dann die Vorhersage falsch, so wird das Vorwissen aktualisiert und dann die nächste Vorhersage besser. Im Rahmen der Neurowissenschaften wird auch vom ‘Predictive Coding’ gesprochen. Damit wird eine Theorie bezeichnet, die wesentlich von Karl Friston erarbeitet wurde. Dieses Modell erklärt, wie es gelingt, dass wir zu jedem Zeitpunkt ein Gesamtbild der Welt wahrnehmen, obwohl wir immer nur einen kleinen Ausschnitt detailliert wahrnehmen. Die innere Repräsentation der Welt ist das Resultat einer langen Reihe von Versuch und Irrtum. Die Konzentration auf Unterschiede zwischen erwarteter und tatsächlicher Wahrnehmung spart auch “Rechenleistung”.
Es ist wichtig, dass das Gehirn die eigenen Aktivitäten kennt und nicht als von aussen gemacht interpretiert. Drehen wir z.B. den Kopf, so darf die Änderung der visuellen Wahrnehmung nicht auf eine Änderung der Welt sondern muss eben auf die Änderung der eigenen Blickrichtung zurückgeführt werden. Ein gutes Beispiel ist auch die Unmöglichkeit, sich selber zu kitzeln. Da der durch den kitzelnden Finger zu erwartende Sinnenreiz schon vorhergesagt wird, kitzelt er auch nicht mehr.
In diesem Modell lassen sich auch Psychopathologien verstehen. Werden die eigenen Vorhersagen nicht richtig verarbeitet, kann es zum “Gefühl des Gemachten” kommen, eigene Bewegungen werden als von aussen verursacht wahrgenommen, ein tpyisches Symptom bei Psychosen. Es können aber auch die eigenen Vorhersagen zu hoch gewichtet werden, so dass sie nicht durch Sinnesdaten korrigiert werden und fälschlich für wahr gehalten werden. Das Resultat sind Wahn und auch Halluzinationen. Ob eigene Vorhersagen zu hoch oder zu niedrig bewertet werden, scheint von der Verarbeitungshierarchie abhängig zu sein. Umgekehrt kann der Autismus als Überbewertung der Sinnesdaten beschrieben werden. Betroffenen fällt es schwer, eine kohärente Repräsentation der Welt zu generieren, da zu viele Sinneseindrücke als relevant eingestuft werden. Entsprechend vermeiden sie Lärm und bevorzugen Routinen, was die Welt vorhersehbarer macht.
Zusammengefasst kann man sagen, dass die wahrgenommene Welt die aktuell beste Annahme für die Erklärung der Sinneseindrücke und der Konsequenzen des eigenen Handelns darstellt.
Literatur
Buzsaki, G: The Brain from inside out. Oxford University Press 2019.
Friston, K: The free-energy principle: a unified brain theory? Nature Reviews Neuroscience 11, 2010.
Dima, D. et al.: Reduced P300 and P600 amplitude in the hollowmask illusion in patients with schizophrenia. Psychiatry Research 191, 2011.
Horga, G. et al.: Deficits in predictive coding underlie hallucinations in schizophrenia. Journal of Neuroscience 34, 2014.
Cepelewicz, J: Die Kristallkugel im Kopf. Predicitve Coding. Gehirn&Geist 09_2019, 12-27.
Weigmann, K: Die Macht der Erwartung. Gehirn&Geist 10_2019, 56-61.