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"Eine musikalische Geschichte der Menschheit: Von unseren frühesten Vorfahren bis heute” von Michael Spitzer

Michael Spitzer

"Eine musikalische Geschichte der Menschheit: Von unseren frühesten Vorfahren bis heute”

Michael Spitzers Buch ist eine ehrgeizige und umfassende Erzählung über die Rolle der Musik in der Geschichte der Menschheit. Spitzers Hauptargument ist, dass Musik eine tief verwurzelte und zentrale Rolle in der menschlichen Existenz spielt, die sowohl biologische als auch kulturelle Dimensionen umfasst. In seinem Buch betrachtet er Musik nicht nur als eine Kunstform, sondern als eine grundlegende Ausdrucksform des Menschseins, die mit unserer Evolution, unseren Emotionen und sozialen Strukturen verwoben ist. Michael Spitzers Buch ist eine Tour d’Horizon, die Erkenntnisse aus Physik, Technologie, Biologie und Religion miteinander verbindet.

Dies sind die Kernaussagen des Buches:

1. Musik als universelle menschliche Erfahrung

Spitzer argumentiert, dass Musik ein universelles Merkmal des Menschseins ist. Sie ist nicht auf eine bestimmte Kultur oder Epoche beschränkt, sondern begleitet den Menschen seit seinen frühesten Tagen. Musik findet sich in allen Gesellschaften und Epochen, und ihre Ursprünge reichen weiter zurück als die menschliche Sprache. Diese Universalität der Musik weist laut Spitzer auf ihre tiefe Verankerung im menschlichen Gehirn und in der Evolution hin.

2. Biologische und evolutionäre Wurzeln der Musik

Musik ist nach Spitzer kein Zufall und nicht erst beim Menschen entstanden. So beschreibt er die Entwicklung des Hörens vom Fisch zum Menschen. Fische “hören” Töne nicht, sie “fühlen” sie. Entlang der sogenannten Laterallinie vom Kopf bis zum Schwanz besitzen sie ein System von Sinneszellen, das es ihnen ermöglicht, die Druckwellen der Schwimmbewegungen anderer Fische wahrzunehmen. Der Mensch hat keine Laterallinie, sondern das Cortische Organ im Innenohr, das nicht auf Druckwellen, sondern auf Frequenzen reagiert. Das Cortische Organ ist eine miniaturisierte, zusammengerollte und verbesserte Version der Laterallinie. Auch hier besteht ein Zusammenhang zwischen Hören und Bewegung. Das Cortische Organ ist eng mit dem Gleichgewichtsorgan verbunden, und das Hören von Musik aktiviert zahlreiche Hirnregionen, die mit Bewegung in Verbindung stehen (Basalganglien und Kleinhirn).

Neben der Wahrnehmung von Geräuschen oder Bewegungen anderer Lebewesen dient das Gehör auch der Wahrnehmung von Kommunikationssignalen. Singvögel zwitschern, um mögliche Partner zu beeindrucken oder ihr Revier zu verteidigen. Einige Säugetiere rufen, bellen oder heulen, um sich bei ihren Artgenossen Gehör zu verschaffen. Männliche und weibliche Stechmücken summen mit unterschiedlichen Flügelschlagfrequenzen, stimmen sich aber kurz vor der Paarung auf die gleiche Tonhöhe von 1200 Hertz ein. Wale komponieren sogar alle paar Jahre neue Melodien. «Musik hat sich mindestens viermal getrennt entwickelt, bei Insekten, Vögeln, Walen und Menschen». Affen sind allerdings weniger “begabt”. Die Primaten haben keine Musikalität entwickelt, sie “singen” keine Lieder, was die Wissenschaftler vor ein Rätsel stellt, wenn man bedenkt, wie nahe sie mit uns verwandt sind.

Beim Menschen sieht der Autor im aufrechten Gang den Ursprung von Rhythmus und Takt. Beide bilden das Gehen in Raum und Zeit ab. Außerdem wurden die Hände frei, um z.B. in die Hände zu klatschen, “Werkzeuge” zu benutzen, um Töne zu erzeugen. Auch der Tanz wird durch den aufrechten Gang ermöglicht.

3. Musik und Emotion

Nach Spitzer imitiert die Musik also die Bewegung im Raum und Zeit (im Rhythmus des zweibeinigen Ganges) und ‘bewegt’ uns emotional (‘emovere’ lat. für bewegen, aufwühlen). Musik hat also die einzigartige Fähigkeit, Emotionen auszudrücken und hervorzurufen. Diese emotionale Kraft der Musik ist einer der Hauptgründe, warum sie in der Geschichte der Menschheit eine so zentrale Rolle gespielt hat. Musik ist in der Lage, sowohl individuelle als auch kollektive Gefühle zu transportieren und zu verstärken. Sie kann Trost spenden, Freude auslösen, Trauer ausdrücken oder Spannung erzeugen. Spitzer untersucht die psychologischen Mechanismen, die diesem Phänomen zugrunde liegen, und geht der Frage nach, wie Musik die Emotionen des Menschen zutiefst beeinflusst.

4. Musik als soziales Bindemittel

Spitzer diskutiert, wie Musik als Mittel der Kommunikation und der sozialen Bindung dient, vergleichbar mit der Rolle, die der Gesang bei Vögeln oder Walen spielt.

Er beschreibt, wie Musik und Tanz Gemeinschaften zusammenbringen, sei es in religiösen Ritualen, sozialen Zeremonien oder einfach im Alltag. In diesem Zusammenhang argumentiert er, dass Musik nicht nur ein individuelles Erlebnis ist, sondern wesentlich zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts und zur Schaffung kollektiver Identitäten beiträgt. Musik dient als Werkzeug, um Emotionen und Handlungen innerhalb einer Gruppe zu synchronisieren, was den sozialen Zusammenhalt, das Gemeinschaftsgefühl und die Zusammenarbeit stärkt.

Musik und Tanz ermöglichen es auch, gemeinsam in Ekstase zu geraten, was in einigen religiösen Ritualen von Bedeutung ist. So zitiert der Autor William James zur Verbindung von Religion und Ozean: “Religiöse Verzückung, moralische Begeisterung, ontologisches Staunen und kosmische Ergriffenheit sind vereinigende Geisteszustände, in denen Sand und Kies des Selbstseins verschieden sind [...] [Es ist] ein Meer, in dem wir schwimmen”.

Interessant ist auch die Unterscheidung von Ekstase und Trance. Ekstase z.B. im. Rahmen eines religiösen Rituals: Bewegung, Lärm, in Gesellschaft. sensorische Überstimulation, Amnesie. Im Gegensatz dazu Trance z.B. im Rahmen einer Meditation oder Hypnose: Bewegungslosigkeit, Stille, Einsamkeit, sensorische Deprivation, Erinnerung.

5. Musik und kulturelle Entwicklung

Spitzer widmet sich auch der Rolle der Musik in der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Musik ist nicht nur ein Ausdruck der menschlichen Kultur, sondern auch ein Motor der kulturellen Evolution. Sie dient als Kommunikationsmittel zwischen den Kulturen und trägt zur Entwicklung und zum Austausch von Ideen und Werten bei. Musik hat sich im Laufe der Geschichte ständig verändert und ist ein Spiegelbild kultureller Dynamik. In diesem Sinne argumentiert Spitzer, dass die Geschichte der Musik untrennbar mit der Geschichte der Menschheit verbunden ist.

6. Musik und Technologie

Viele Kulturen kennen Mythen über ihre Herkunft aus dem Tierreich. Knochen, Leder und Haare wurden schon früh für den Instrumentenbau verwendet. Das älteste erhaltene Instrument ist eine 40.000 Jahre alte Flöte. Höhlen sollen die ersten Konzertsäle gewesen sein, Darstellungen von Tänzen lassen Rückschlüsse auf die damalige Musikpraxis zu.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich die Musik in engem Zusammenhang mit der technischen Entwicklung entwickelt. Spitzer betont die Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung von Musikinstrumenten, Aufnahmetechniken und der Verbreitung von Musik. Jede technologische Innovation, von der Erfindung des Notensystems bis zur Digitalisierung von Musik, hat die Art und Weise, wie Musik produziert, verbreitet und gehört wird, grundlegend verändert. Die technologische Entwicklung spiegelt wider, wie die Musik immer neue Wege findet, sich auszudrücken und auf die Menschen einzuwirken.

7. Musik im digitalen Zeitalter - Aufforderung, selbst Musik zu machen

Im digitalen Zeitalter hat sich die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren, stark verändert. Spitzer beschreibt die heutige Musikwelt als geprägt von einem Überangebot an Klängen, die durch Internet und Streaming-Dienste sofort verfügbar sind. Mit Kopfhörern und Geräuschunterdrückung unterlegen wir unseren Alltag mit einem persönlichen Soundtrack, ohne selbst Musik zu machen. Wo früher jeder musizierte - allein oder in der Gruppe - spielen heute meist nur noch Profis. Der «musikalische Mensch» wird zum passiven Konsumenten degradiert.

Er diskutiert die Auswirkungen dieses Wandels auf unser Verhältnis zur Musik und fragt, ob die zunehmende Kommerzialisierung und Digitalisierung der Musik ihre tiefere Bedeutung und emotionale Kraft beeinträchtigt. Spitzer will deshalb mit seinem Buch auch dazu anregen, selbst Musik zu machen. Der «Mozart-Effekt», wonach klassische Musik angeblich klüger macht, ist nicht bewiesen. Aber ein Instrument zu spielen schult das Gehör, lehrt Disziplin und verbessert die motorische Koordination. All das ist besser, als in der gleichen Zeit nur passiv Musik zu konsumieren.

Fazit: Musik als Essenz des Menschseins

Zusammenfassend zeigt Spitzer in ‘Eine musikalische Geschichte der Menschheit’, dass Musik eine fundamentale und integrale Rolle im menschlichen Leben spielt - von ihren biologischen und evolutionären Ursprüngen bis hin zu ihrer Bedeutung für soziale, kulturelle und emotionale Prozesse. Er sieht Musik als eine der tiefsten Ausdrucksformen menschlicher Existenz, die Menschen über Zeiten und Kulturen hinweg miteinander verbindet. Für Spitzer ist die Geschichte der Musik untrennbar mit der Geschichte des Menschen verbunden.


Spitzer M. Eine musikalische Geschichte der Menschheit: Von unseren frühesten Vorfahren bis heute. Riva; 2021. 560 S.