NEUROPSYCHIATER

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"Tribe - Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit" von Sebastian Junger

Sebastian Junger

"Tribe - Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit"

Ein interessantes, teilweise auch verstörendes Buch mit der Hauptthese, dass Entbehrungen dem Menschen nichts ausmachen würden, dass er sogar auf sie angewiesen sei. Zeiten der Entbehrung bei Katastrophen und Krieg fühle sich für manche manchmal besser an als Frieden. Woran der Mensch wirklich leide, sei das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Und das Gefühl der Nutzlosigkeit sei in unserer modernen Gesellschaft weit verbreitet.

Was ich notiert habe:

  • Essentiell für die psychische Gesundheit sind intrinsische Werte wie das Gefühl, seine Arbeit kompetent verrichten zu können und mit anderen Menschen in Verbindung zu leben. Extrinsische Werte wie Schönheit, Geld und Status sind weniger wichtig.

  • Die moderne Gesellschaft hat für mehr Freizeit gesorgt - heisst es. Vielmehr habe sie jedoch für einen Kreislauf von mehr Arbeit, finanziellen Verpflichtungen und dann noch mehr Arbeit gesorgt. Gesellschaften, die bis vor kurzem noch wie in der Steinzeit lebten, hatten viel weniger Besitz, dafür mehr Kontrolle über ihr Leben.

  • Westliche Länder zeigen trotz des Wohlstandes höhere Depressions- und Suizidraten als arme Länder. Arme Menschen sind eher gezwungen, Zeit und Mittel mit anderen zu teilen und leben somit in engeren Gesellschaften. Finanzielle Unabhängigkeit kann zu Isolation und damit mit einem höheren Risiko zu einer Depression führen.

  • Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Depressions- und Suizidraten in Zeiten der Krisen sinken. Daraus abzuleiten, dass Gewalttätigkeit ein Mittel zur Förderung der mentalen Gesundheit, wäre unverantwortlich und nicht, worauf der Autor hinaus will. Belastungen und Druck von aussen verstärken aber das Gefühl von Gemeinschaft und gemeinsamer Bewältigung.

  • Aufgrund der Erlebnisse als Kriegsreporter entwickelte der Autor selbst eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Er beschreibt die PTBS als notwendige Reaktion, wenn man sich in Lebensgefahr befindet: wachsam sein, gefährliche Situation vermeiden, einen leichten Schlaf haben, um bei Gefahr zu erwachen. Flashbacks und Albträume, um nicht zu vergessen, was gefährlich war. Auch der Wechsel von Wut und Depression sei wichtig. Die Wut macht kampfbereit, die Depression schütz vor zu viel Aktivität und wieder Gefahr.

  • Krieg und Krisen bringen Zerstörung und Verlust von Menschenleben. Dennoch kommt es immer wieder dazu, als ob sie bei Menschen auch Positives bewirkten könnten: Mut, Loyalität und Selbstlosigkeit.

  • Was den Menschen heute zu fehlen scheine, seien nicht Gefahr und Verlust, wahrscheinlich aber die durch diese erzwungene Gemeinschaft und Geschlossenheit.

  • Wenn aber eine PTBS auch einen Nutzen hat und sich meist abschwächt, wie kommt es denn dazu, dass so viele amerikanische Soldaten chronisch daran leiden und nicht mehr in die Gesellschaft integriert werden können? Anhand von verschiedenen Beispielen - aus anderen Kulturen aber auch aus Israel und in Anlehnung an Studien - interpretiert der Autor die PTBS als eine Störung der Wiedergesundung. Die Genesung falle dann schwerer, wenn sich die Behandlung auf die Symptome konzentriere und v.a. pathologischere. Wichtige wäre die Reintegration der Veteranen in die Gesellschaft. Weil in der modernen Gesellschaft Trauma und Gewalt völlig aus dem Alltagsleben ausgeklammert sei, werde jeder, der tatsächlich darunter leidet, für sehr unglückselig betrachtet. Dies führe zu Versicherungsleistungen, aber auch zu einer Opferidentität, die die Genesung verzögere.

An keiner Stelle in dem Buch entsteht bei mir der Eindruck, dass der Autor die PTBS als Konzept ablehnt, hat er doch selbst auch darunter gelitten. Er zeigt aber auf, dass es auch ein posttraumatisches Wachstum geben kann und dass dies in Gesellschaften, die nicht “modern” sind, eher funktioniert. Der Stamm als Gruppe von Menschen, die systematisch teilt und altruistisch die Gruppe verteidigt ist besser in der Lage, auch seine Krieger wieder zu integrieren. Zusammengefasst argumentiert der Autor, dass in den USA nicht der Krieg die Genesung der Soldaten verhindere, sondern die Gesellsacht, die ungleich, raffgierig, unmenschlich und rassistisch sei und der jegliches Gemeinschaftsgefühl abhandengekommen sei.


Junger S. Tribe: Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit. Deutsche Erstausgabe Edition. München: Karl Blessing Verlag; 2017. 192 S.