Personalisierte Psychiatrie
Obwohl man immer wieder liest, dass Antidepressiva bei der Behandlung von Depressionen nur wenig wirksam seien, kann doch vielen Patientinnen und Patienten gut geholfen werden und auch ich setze Antidepressiva regelmässig erfolgreich ein. Gleichzeitig ist es so, dass manche Betroffene nicht auf Antidepressiva ansprechen, dass aber andere Substanzklassen oder auch nicht-medikamentöse Behandlungen wie z.B. die transkranielle Magnetstimulation helfen. Wie ist das zu verstehen? Wie kann die Erfolgsquote erhöht werden?
Der Hauptgrund dürfte darin zu liegen, dass in der Psychiatrie Diagnosen aufgrund von Konstellationen der Beschwerden, sogenannten Syndromen gestellt werden. Leidet jemand seit mehr als zwei Wochen täglich und die meiste Zeit des Tages an einem depressiven Syndrom (Verlust von Freude und weiteren Symptomen von einer definierten Liste) spricht man von einer Depression. Dann wird “die Depression” aufgrund von Algorithmen behandelt, die einerseits auf der durchschnittlichen Wirksamkeit von Medikamenten, Nebenwirkungs-Raten und andererseits auf der klinischen Erfahrung der Ärztin, des Arztes beruhen: “One Size Fits All”-Psychiatrie.
Die durchschnittliche Wirksamkeit wird durch Studien ermittelt, in denen eine grosse Gruppe von Betroffenen mit einem Medikament behandelt wird. Wenn man annimmt, dass nicht bei allen genau dieselbe Fehlfunktion auf neuronaler Ebene vorliegt, so ist es nicht erstaunlich, dass nicht alle auf ein Medikament mit einem spezifischen Wirkmechanismus ansprechen. Bei Brustschmerzen behandelt man auch nicht alle Patienten gleich. Man klärt zuerst, ob ein Herzinfarkt, eine Lungenembolie oder eine Erkrankung von Lunge oder Rippen vorliegt. Je nach Krankheitsprozess sieht die Behandlung fundamental anders aus. Für die Behandlung von “Depressionen” bedeutet dies, dass man die depressiven Patientinnen und Patienten finden will, welche dieselbe neuronale Funktionsstörung zeigen und damit alle auf eine spezifische Therapie ansprechen: “Stratifizierte Psychiatrie”.
Um Gruppen mit derselben neuronalen Funktionsstörung zu unterscheiden, benötigt man objektiv messbare Indikatoren: man spricht von Biomarkern. Biomarker können genetische, neuroanatomische, (elektro-)physiologische oder auch neuropsychologische Parameter sein. Man spricht auch von Neuromarkern, wenn neuronale Fehlfunktionen abgebildet werden. Man kann sich diese hierarchisch geordnet vorstellen, zwischen dem Genotyp (genetische Veranlagung) und dem Phänotyp (Symptomkonstellation). Wichtig dabei ist, dass man sich z.B. elektrophysiologische Abweichungen nicht nur durch den Genotyp (Bottom up), sondern auch durch psychosoziale Belastungen (Top down) verursacht vorstellt.
Elektrophysiologische Marker können z.B. abweichende EEG-Frequenzverteilungen sein. Diese können als Funktionsstörung von neuronalen Netzwerken interpretiert werden und somit Hinweise auf die Funktionsstörung geben. Ist eines der wichtigen Intrinsic Connectivity Networks (Bewertungsnetzwerk, Ruhezustandsnetzwerk, Ausführungsnetzwerk) über- oder unteraktiviert oder sind sie nicht gut aufeinander abgestimmt?
Denn nicht nur eine Unter-, sondern auch eine Überaktivierung kann zu einer verminderten Funktion eines Netzwerkes führen. Dann ist eine Beruhigung der Aktivität nötig, um die Funktion ins Optimum zurückzubringen:
So können Depressionen neurobiologisch als Ausdruck einer Fehlregulation kortikaler und subkortikaler Strukturen aufgefasst werden: Unteraktivierung des linken dorsalteralen Präfrontalkortex und des anterioren cingulären Kortex (ACC) auf der einen Seite und Überaktivierung limbischer Strukturen, insbesondere der Amygdala auf der anderen Seite. All diese Strukturen sind ihrerseits in Regelkreise eingebunden, so dass letztendlich die Symptomatik das ganze Spektrum menschlichen Erlebens betrifft: Antriebsminderung, Konzentrations- und Gedächtnisstörung, Grübeln, Kreisen negativer Gedanken, Angst, Störungen von Schlaf, Appetit und Libido.
Lassen sich bei einer Patientin diese Abweichungen in Neuromarkeruntersuchungen nachweisen, so ist es sinnvoll, den linken präfrontalen Kortex zu aktivieren und den rechten zu in seiner Aktivität zu hemmen:
Die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) ist eine Möglichkeit, dies zu erreichen. Andere Biomarker sagen z.B. ein gutes Ansprechen auf eine Behandlung mit einem spezifischen Antidepressivum voraus oder sie helfen, eine geeignetes Protokoll der transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) zu wählen. Wie oben erläutert spricht man bei diesem Vorgehen von einer Stratifizierung: aufgrund eines Neuromarkers wird eine Patientin, ein Patient einer Gruppe zugeordnet, von der man weiss, dass sie gut auf die eine oder andere Behandlung anspricht.
Weiter ist es möglich, dass ein Patient mehreren Gruppen zugeordnet werden kann, dass er verschiedene Merkmale zeigt, die je für eine gezielte Therapie sprechen. Aufgrund der individuellen Konstellation kann dann eine massgeschneiderte, personalisierte Behandlung geplant werden, z.B. eine Kombination aus Neurofeedback, einem Medikament und tDCS:
Auch wenn wegen der Komplexität des Gehirns davon auszugehen ist, dass wir psychische Störungen noch lange nicht so gezielt behandeln können, wir wir das gerne hätten, so bin ich davon überzeugt, dass es das Ziel der Psychiatrie als medizinisches Fach sein muss, die Personalisierung mit Hilfe von Biomarkern voranzutreiben.
Literatur
Fernandes BS, et al.: The new field of ‘precision psychiatry’. BMC Medicine 2017; 15(1): 80.
Arns M, et al.: Stratified psychiatry: Tomorrow’s precision psychiatry? Eur Neuropsychopharmacol 2022; 55:14-19.